Am 22. Mai 1992 wurde der Text des Übereinkommens über die biologische Vielfalt auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) offiziell angenommen. Später wurde der 22. Mai als Internationaler Tag der biologischen Vielfalt eingeführt, um das Bewusstsein für die Thematik zu stärken. 30 Jahre nach der Konferenz findet das Thema Biodiversität zunehmend Beachtung in der öffentlichen Debatte. Das ist bei einem Blick auf die aktuellen Zahlen und Fakten auch dringend nötig: So warnt der Weltbiodiversitätsrat IPBES, dass das Artensterben heutzutage um zehn- bis hundertmal höher sei als in den vergangenen zehn Millionen Jahren. Bereits in wenigen Jahrzehnten könnten rund eine Million Tier- und Pflanzenarten aussterben – zwölf Prozent der auf der Erde lebenden Arten.
Diese Entwicklung ist nicht nur für die betroffenen Arten bedrohlich, sondern auch für den Menschen. Denn die Zerstörung der biologischen Vielfalt gefährdet für den Menschen lebenswichtige Grundlagen wie beispielsweise saubere Luft, frisches Wasser oder eine gute Bodenqualität. Auch ist die überwiegende Mehrheit aller Nahrungsmittel- und Nutzpflanzen auf Bestäubung durch Tiere angewiesen. Darüber hinaus sind der Klimawandel und Biodiversität untrennbar miteinander verknüpft. Die zunehmende Erwärmung der Erde begünstigt das Artensterben, welches wiederum den Klimawandel beschleunigt. Die fortschreitende Zerstörung natürlicher Ökosysteme und tierischer Arten beeinträchtigt entsprechend auch die Erreichung des Klimaziels von 1,5 Grad.
Neben den ökologischen Folgen hat der Verlust der Artenvielfalt auch eine unmittelbare wirtschaftliche und finanzielle Komponente. So wird geschätzt, dass weltweit Wirtschaftsleistungen in Höhe von etwa 44 Billionen US-Dollar von einer intakten Natur abhängen – das ist mehr als die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsproduktes.
Die Politik reagiert
Entsprechend ist das Thema in den vergangenen Jahren zunehmend in den Fokus des politischen Handelns gerückt: Insbesondere die Wirtschaft soll künftig nicht mehr darum herumkommen, sich mit den Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit auf die Biodiversität zu befassen und Risikostrategien zu entwickeln. International laufen die Verhandlungen der UN zu dem neuen Abkommen für Biodiversität, welches eine ähnliche Bedeutung wie das Klimaziel von Paris haben soll. Nach einigen Verschiebungen, bedingt durch die Corona-Pandemie, soll das Abkommen noch im Dezember 2022 in einem UN-Weltnaturgipfel in Montreal verabschiedet werden. Bereits 2020 wurde die sogenannte „Taskforce on Nature-related Financial Disclosures“ (TNFD) gegründet, um freiwillige Finanzberichtsstandards speziell für Biodiversität zu erarbeiten. Im April 2022 legte die Arbeitsgruppe einen Entwurf für ein neues Rahmenwerk für Offenlegungspflichten und Risikomanagement in Bezug auf naturbezogenen Risiken vor. Das Regelwerk wird aktuell von verschiedenen Marktteilnehmern in einem Pilotprojekt getestet, an dem auch die ING teilnimmt. Für den Bereich Klima liegen solche Standards bereits vor und werden zunehmend von nationalen und europäischen Gesetzgebern aufgegriffen.
Auf Ebene der Europäischen Union (EU) laufen aktuell die finalen Verhandlungen über die „Corporate Sustainability Reporting Directive“ (CSRD). Die Richtlinie wird die Offenlegungspflichten für Informationen stark erweitern – auch für Kennzahlen im Zusammenhang mit Biodiversität. So sollen Unternehmen künftig genaue Angaben zu ihren Zielen, Plänen, Leistungskennzahlen und Strategien in Bezug auf ihre Auswirkungen auf die Natur machen. Auch die EU-Taxonomie setzt sich mit dem Thema auseinander. Wurde bisher der Fokus auf den Klimaschutz gelegt, so sollen noch dieses Jahr die technischen Definitionen für die Klimaziele Biodiversität und Kreislaufwirtschaft vorbereitet werden und danach in delegierten Rechtsakten umgesetzt werden.
Was macht die ING?
Als Bank haben wir durch unser Geschäftsmodell einen wichtigen Einfluss auf Biodiversität, zum Beispiel über die Entscheidung, welche Unternehmen und Projekte wir mit Krediten finanzieren, das bedeutet, als Finanzinstitut haben wir eine besondere Verantwortung bei der Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Die wirtschaftliche Existenz unserer Kunden wird direkt durch den Verlust von Biodiversität beeinflusst und wir sind durch unser Kreditportfolio diesem Risiko indirekt ausgesetzt. Daher haben wir es uns zum Ziel gesetzt, unsere Kunden bei der Umstellung auf Geschäftsmodelle zu unterstützen, die der Natur nicht schaden. Dafür haben wir eine Reihe von Nachhaltigkeitsprodukten und -dienstleistungen im Angebot - wie etwa grüne Kredite und Anleihen. Darüber hinaus haben wir das Thema Biodiversität in unser Risikomanagementsystem für Umwelt- und Sozialrisiken (ESR) aufgenommen.
So legen wir bei unseren Finanzierungsentscheidungen strenge ethische und ökologische Kriterien an und finanzieren keine Projekte, die direkte Auswirkungen auf hochwertige Ökosysteme wie zum Beispiel Stätten des UNESCO-Kulturerbes (wie das Great Barrier Reef) oder gefährdete Feuchtgebiete haben. Für Sektoren, die besonders starke Auswirkungen auf die Natur haben, enthält das Rahmenwerk zusätzliche Sorgfaltspflichten: So führen wir beispielsweise eine verstärkte Due-Diligence-Prüfung durch, bevor wir Projekte finanzieren, die erhebliche Landnutzungsänderungen erfordern. Zuletzt haben wir im Jahr 2022 die bestehenden Anforderungen auf „Schlüsselgebiete der biologischen Vielfalt“ ausgeweitet, in denen Populationen der weltweit bedrohten Arten beheimatet sind.
Als Finanzinstitut sehen wir uns in zweifacher Verantwortung, die Erde und das Leben auf ihr zu schützen: als engagierte Mitglieder der Gesellschaft um uns und unseren Kindern eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen und als Wirtschaftsunternehmen, dass nur erfolgreich sein kann, wenn seine Kunden langfristig und nachhaltig florieren. Für beides sind gesunde Ökosysteme notwendig. Wir wollen deshalb unseren Teil dazu beitragen, um die Risiken des Verlusts der biologischen Vielfalt zu bekämpfen und unseren Kunden zu helfen, ihre Geschäftsmodelle nachhaltig auszurichten. Die neuen regulatorischen Anforderungen zum Thema Biodiversität, die sich aktuell am Horizont abzeichnen, sollten daher als Chance begriffen werden, dieses zentrale Zukunftsthema gemeinsam anzugehen.