Globale Lieferketten sind seit einigen Jahren von Unterbrechungen, Engpässen und Verzögerungen geprägt. Zunächst hat der Handelskrieg des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump mit China die etablierten Regeln des Welthandels verändert. Dann kamen die Produktions- und Transportunterbrechungen aufgrund der Covid-19-Pandemie, die weltweit zu Engpässen und daraus resultierender Inflation führten. Und schließlich führt der Krieg in der Ukraine zu strukturellen Veränderungen im Welthandel, wie wir ihn kannten.
Obwohl sich die Engpässe in der Lieferkette langsam verbessern, bleiben sie in ihrem aktuellen Zustand fragil, und ein unterbrochenes schwaches Glied kann leicht zu neuen Rückschlägen führen. Die in China verabschiedeten strengen Lockdown-Maßnahmen im Zusammenhang mit Covid-19 setzen die Lieferketten auch weiterhin unter Druck. Die Transportbranche leidet noch immer unter einem Mangel an Ausrüstung und Personal. Beispielsweise bleibt die Halbleiterknappheit ein Problem, insbesondere für die Automobilindustrie. Darüber hinaus führt die hohe Inflation zu vermehrten Streiks der Arbeitnehmer für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, was die aktuelle Situation verschärft. Auch extreme Wetterereignisse haben ihre Spuren in den Lieferketten hinterlassen und werden dies auch in den nächsten Jahren noch tun. Mit weniger Energielieferungen aus Russland steht vor allem europäischen Unternehmen eine harte Wintersaison bevor.
Während sich die Angebotsseite langsam verbessert, verliert die Nachfrageseite an Fahrt. Der extreme Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise lastet auf der Kaufkraft der Verbraucher, das Verbrauchervertrauen ist mittlerweile auf ein Niveau gesunken, das zuletzt in den Tiefen der Covid-19-Krise erreicht wurde. Zwar hat der Nachholbedarf an Reisen und Dienstleistungen die Ausgabenlaune bisher aufrecht gehalten, doch das wird sich im Herbst ändern. Neue Covid-Wellen könnten die Aktivität und die Nachfrage belasten, die hohen Energiepreise tun ihr Übriges. Während der aktuelle Rückstand in den Auftragsbüchern ausreicht, um Lieferketten auch für den Rest des Jahres angespannt zu halten, könnte das Überangebot wieder zu einem Problem werden, sobald die Nachfrage auf ein regelmäßigeres Niveau zurückgeht. Und da die Nachfrage nach Gütern zurückgeht, könnten Transportunternehmen im nächsten Jahr mit einem Überangebot an Containern und Flottenkapazitäten konfrontiert werden.
Darüber hinaus müssten Handelsströme erheblich umgestaltet werden, da Marktteilnehmer, die zuvor Rohstoffe und Waren aus Russland gekauft haben, nach Alternativen suchen, während andere Länder einspringen, um von Rabatten zu profitieren. Dies führt zu einer neuen Weltwirtschaftsordnung, die durch mehr „Friend-Shoring“ gekennzeichnet ist – Handelsbeziehungen mit Ländern, die langjährige Beziehungen unterhalten, Zusammenarbeit und ähnliche Werte teilen, werden wertvoller. Auch moralischem Handeln kann eine wichtigere Rolle beim internationalen Handel zuteilwerden. Diversifizierung bei Lieferanten und/oder Regionen, mehr Bevorratung und Bestandsaufbau werden die Handelsbeziehungen in den kommenden Jahren prägen.
Was können Unternehmen tun, um die Resilienz in ihrer Lieferkette zu erhöhen? Und wie können Banken ihre Kunden dabei unterstützen?
Der Automobilsektor ist ein gutes Beispiel für die Veränderungen in den Lieferketten, da der Sektor aufgrund von Lieferkettenproblemen große Rückschläge erlitten hat. Die automobile Wertschöpfungskette ist durch eine strikte Just-in-Sequence- bzw. Just-in-Time-Produktion gekennzeichnet. Das hat zwar Vorteile, z. B. durch geringe Lagerbestände und damit Kosten, aber auch Nachteile, da Puffer eliminiert werden. Gerade in Zeiten, in denen es Probleme entlang der Lieferkette gibt, sehen sich Hersteller der Herausforderung gegenüber, pünktlich zu liefern. Die Halbleiterkrise hat dies deutlich sichtbar gemacht. Die hohe Abhängigkeit von wenigen Halbleiter-Herstellern hat die Probleme für die Automobilbranche verschärft.
In diesen herausfordernden Zeiten können Unternehmen ihr Lieferantennetzwerk diversifizieren, um die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen und die Abhängigkeit von einer einzigen Quelle zu vermeiden. Automobilunternehmen haben beispielsweise kreative Lösungen geschaffen, um die Lieferung sicherzustellen. Die Maßnahmen reichen von der Priorisierung der Produktion margenstarker Fahrzeuge über die dynamische Änderung ausgewählter Extras bis hin zu leicht erhöhten Lagerbeständen und einer Umorientierung auf eine verstärkt lokale Produktion. Änderungen in der Lieferkette vorzunehmen, ist jedoch eine zeitaufwändige Aufgabe. Hier kann eine Bank helfen, zumindest die Finanzierung zu sichern. Alternative Finanzierungswege können Lösungen bieten. Die Bereitstellung von Supply Chain Finance zur Unterstützung in Rezessionszeiten kann Geschäftsmodelle entlasten und Unternehmen helfen, schwierige Zeiten zu überbrücken. Eine weitere Möglichkeit, Unternehmen zu helfen, ist die Kapitalfinanzierung, indem Unternehmen Zugang zu Liquidität erhalten. Für eine Bank ist es wichtig, diese Kundenprozesse zu verstehen und mitzudenken, um gemeinsam neue Lösungen zu finden und Synergien zu schaffen.
Autoren: Inga Fechner, Senior Economist ING Deutschland, Jens Brokate, Vice President, Sector Coverage Automotive ING Wholesale Banking und Tom Groenewoud