Die Bundesrepublik Deutschland ist als viertgrößte Volkswirtschaft der Welt [1] und globales Exportzentrum ein wichtiger Akteur in der globalisierten Wirtschaft. Wie in den vorangegangenen Artikeln dieser Serie beschrieben, war die sichere, bezahlbare und zuverlässige Energieversorgung ein wesentlicher Faktor der deutschen Erfolgsgeschichte. Die Akteure des deutschen Energiesektors vom großen Energieversorger bis hin zu mehreren hundert lokalen Stadtwerken standen und stehen im Mittelpunkt jeder Entwicklung, die Deutschlands und Europas Energie-Erzeugung, -Versorgung und -Marktgestaltung betrifft. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 hat eine Beschleunigung der bereits laufenden, vielschichtigen Energiewende weit über den eingeleiteten beschleunigten Atomenergie- und Kohleausstieg hinaus ausgelöst. Im Vergleich zur aktuellen Situation könnte man die Jahrzehnte des späten 20. Jahrhunderts rückblickend fast als Steady-State-Periode bezeichnen.
Energieversorger im Wandel der Zeit
Abbildung 1 : Wichtige Ereignisse, die die Branche geprägt haben, Quelle: ING Research
Die Gestaltung unseres Energiesystems wird kontinuierlich überdacht und an die sich ständig ändernden Anforderungen angepasst. Aus diesem Grund prüft die ING mit ihren Kunden kontinuierlich die Auswirkungen auf die respektiven (zukünftigen) Geschäftsmodelle der Energieversorger, da sie nicht nur am stärksten davon betroffen, sondern auch am besten positioniert sind, um die (R)Evolution anzuführen.
Die allgemeine Herausforderung der Energiewende ist eine weitreichende und hochkomplexe Angelegenheit, die sich auf fast alle industriellen Branchen und Lebensbereiche auswirkt. Wie überträgt sich eine sich ständig verändernde Marktstruktur auf die wesentlichen Charakteristika unserer Energieversorgung aus? Energieversorger wie auch -konsumentensind ständig bestrebt, das zu optimieren, was wir als "Power Square" bezeichnen wollen.
Abbildung 2 : Optimierung des "Power Square", Quelle: ING
Am Beispiel Strom zeigt sich, dass die Stromversorgung anhand von vier Schlüsselkriterien bewertet werden kann: Kunden wollen eine erschwingliche Stromversorgung, während die Zuverlässigkeit gerade in einem hochindustrialisierten Land wie Deutschland von zentraler Bedeutung ist; eine sichere Beschaffung und Erzeugung sind die Grundlage für eine funktionierende Stromversorgung, während die nachhaltige und emissionsarme Stromerzeugung immer wichtiger wird.
Auf der Grundlage des Power Square können einige Schlüsselperioden der letzten zwei Jahrzehnte charakterisiert und ein Ausblick auf das Jahr 2030 gewagt werden.
- Energiewende (2000): Der Energiemarkt befand sich in einer Art "Sweet Spot": Erschwinglichkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit der verschiedenen Energiequellen waren nahezu optimal, während die Auswirkungen auf die Umwelt zu diesem Zeitpunkt noch eine eher untergeordnete Rolle spielen.
- Fukushima (2011): Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel beschleunigte den Ausstieg aus der Atomenergie und zog den Zeitplan nach den Ereignissen in Fukushima von 2030 auf 2022 vor. Das Power Square in der Dekade ab 2010 ähnelte dem im Jahr 2000, zu Beginn der Energiewende, aber mit wachsenden Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit der Stromversorgung in Erwartung von Atomkraftwerksabschaltungen.
- Russische Invasion in der Ukraine (2022): Vor allem während des gleichzeitigen Ausstiegs Deutschlands aus der Atom- und Kohleverstromung war Gas als perfekter Übergangsbrennstoff prädestiniert, da es im Vergleich zu den anderen fossilen Alternativen sauberer, relativ reichlich vorhanden und erschwinglich war und somit eine Schlüsselrolle spielen konnte, bis erneuerbare Energien weit verbreitet sein würden und neue Energietechnologien wie Batteriespeicher und Wasserstoff den Löwenanteil der Energieversorgung übernehmen konnten. In diesem Jahr hat sich das Energiequadrat erst allmählich und dann dramatisch verschoben, da sich alle drei Hauptpfeiler des deutschen wirtschaftlichen Erfolgs des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, d. h. Bezahlbarkeit, Zuverlässigkeit und Sicherheit, verschlechtert haben.
- Weg zum Szenario emissionsfreier Stromerzeugung (2030): Wir gehen davon aus, dass der russische Einmarsch in der Ukraine im Februar 2022 mittel- bis langfristig den Trend zu erneuerbaren Energien weiter beschleunigt und einen neuen Anstoß zur Verringerung der übermäßigen Abhängigkeit von russischen Energieimporten gegeben hat. Die EU ist nun bestrebt, ihre Investitionen in erneuerbare Energien massiv zu erhöhen und ihre Energiequellen zu diversifizieren, indem sie z. B. LNG-Verträge mit den Vereinigten Staaten und anderen Verbündeten abschließt, um kurz- bis mittelfristig eine ausreichende Versorgung mit Erdgas sicherzustellen, bis neue Energietechnologien in kommerziellem Maßstab eingesetzt werden können. Eine durchgehend nachhaltige Gestaltung des Energiesystems ist hierbei zwingende Grundvoraussetzung.
Industrie 4.0 und die Rolle der Versorgungsunternehmen
Unter "Vernachlässigung" der Umweltaspekte konnte in der Vergangenheit ein optimales Power Square (erschwinglich, sicher, zuverlässig) zu begrenzten Kosten geschaffen werden. Heute herrscht weitläufig Konsens, dass der Klimawandel kein theoretisches Konzept ist, sondern eine Bedrohung, der die Weltgemeinschaft so schnell wie möglich begegnen muss. Um dem Klimawandel zu begegnen, sind gewisse Zugeständnisse an die drei anderen Kriterien des Energiequadrats notwendig und gerechtfertigt. Verstärkte Investitionen in erneuerbare Energien und neue Energietechnologien in Kombination mit einer vielfältigen Versorgung mit fossilen Brennstoffen können während der Übergangszeit eine zum mittel- bis langfristigen Erfolg beitragen.
Damit dies gelingen kann, müssen alle Interessengruppen auf den Plan treten und einen angemessenen Beitrag leisten. Die Energieunternehmen stehen heute mehr denn je im Zentrum der wirtschaftlichen Wertschöpfungskette vieler Branchen, sei es die Chemie-, Stahl- oder Automobilindustrie, um nur einige zu nennen. In einer elektrifizierten Gesellschaft gehen die Berührungspunkte weit über die reine Energieversorgung hinaus. Die Energieversorgungsunternehmen werden in der kommenden Phase der Energiewende eine entscheidende Rolle spielen. Sie werden Deutschland dabei unterstützen, vom russischen Gas unabhängig zu werden, sie werden Energienetze im ganzen Land aufbauen, um Deutschland für LNG oder alternative Kraftstoffe wie Wasserstoff fit zu machen, sind elementarer Teil beim Übergang zur E-Mobilität und sie werden die Infrastruktur schaffen, um Energie effizient zu speichern.
Daneben bieten die Energieversorgungsunternehmen entscheidendes Know-how, um den Start der Industrie 4.0 einzuläuten und schlagen dabei zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie sind der Schlüssel zum Aufbau des deutschen Energienetzes und versorgen gleichzeitig den ländlichen Raum mit blitzschnellem Internet. Trends wie Echtzeitökonomie, autonomes Fahren oder Elektromobilität können sich nur durchsetzen, wenn die Energieversorger ihre entscheidende Rolle und Verantwortung wahrnehmen.
Die ING ist bereit, sowohl ihre Bilanz als auch ihr Branchenwissen und ihre Beratungskompetenz einzusetzen, um ihre Kunden im Energiebereich weiter zu begleiten und sie bei einem reibungslosen Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft zu unterstützen.
[1] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157841/umfrage/ranking-der-20-laender-mit-dem-groessten-bruttoinlandsprodukt/
Im Laufe dieser Serie werden ING-Kollegen aus der Praxis berichten, wie sich diese Herausforderungen auf verschiedene Branchen übertragen lassen, wie unsere Kunden sie meistern und wie ING sie dabei unterstützt. Lesen Sie einfach mal rein - es wird sich lohnen.